Warum
eigentlich eine "vorläufige" Theorie der Liebe?
Leben
und lieben in San Franzisko
Neill
ist als Mittdreißiger aus Arkansas mit vorzeitiger Midlife-Crisis in San
Franzisko gestrandet. Er arbeitet im Valley (Silicon) und treibt, nach einer
zusammengekrachten Ehe mit Erin, ziemlich ziellos und lustlos durch sein
(Beziehungs-) Leben. Die Aufarbeitung seiner Beziehung zu den Eltern in
Arkansas gelingt ihm erst mit Hilfe seines leicht durchgeknallten Chefs, der
Ikone der künstlichen Intelligenz, Henry Livorno. Der versucht einen Computer
zu konstruieren, der so viel „Bewusstsein“ entwickelt, dass er den berühmten
Turing Test schafft.
Der
Turing Test, Lackmustest für künstliche Intelligenz
Exkurs:
Alan Turing postulierte schon 1950(!), dass eine Maschine dann über künstliche
Intelligenz (KI) verfüge, wenn sie es schaffe, in einem Chat über den
Bildschirm (das Wort gab es damals noch nicht) ohne Sicht- und Hörkontakt 30
Prozent der Tester zu überzeugen, dass sie menschlich sei. Turing nahm an, dass
dieses Problem bis zum Jahr 2000 gelöst sein sollte. Gerade hochaktuell soll
als erstes das Computerprogramm „Eugene“ den Turing Test 2014 bestanden haben.
Allerdings wird das von Kritikern noch bestritten. Ergebnis offen. In jedem
Fall ist klar: Das Problem mit KI wird uns noch eine Weile begleiten, wenn
schon ein so einfacher Test wie der Turing Test bisher nicht oder
wahrscheinlich nicht bestanden worden ist.
Welche
Rolle spielt KI in „Eine vorläufige Theorie der Liebe“?
Zurück
zu Neill Bassett und seinem Vater Dr. Neill Bassett. Der hatte sein Leben in
einer ausufernden Menge minutiöser Tagebücher dokumentiert und diesem mit 48
Jahren ein typisch amerikanisches, gewaltsames Ende gesetzt: Er erschoss sich
in der Garage mit seinem Gewehr.
Auf
den Tagebüchern von Bassett senior nun beruht das Bewusstsein von Livornos
Computer und sein Sohn Neill junior soll durch seine intime Kenntnis des Vaters
in dauernden Chats und Korrekturen dessen Leistung verbessern. So kommt der
Marketingmann Neill an einen gut bezahlten Job in der Computerbranche, denn er
ist Eigentümer und damit quasi Rechteinhaber der Tagebücher.
Parallel
dazu breitet Hutchins das Liebes- und Beziehungsleben von Neill junior aus: Die
gescheiterte Beziehung zu Erin wird in Rückblenden und Erinnerungen beackert,
außerdem in dem einen oder anderen Treffen der beiden. Aktuell setzt sich Neill
mit seinen Beziehungen zur viel jüngeren Rachel und der Kollegin/Konkurrentin
Jenn auseinander. All das wird sehr geschickt und kurzweilig mit seinen Chats
mit dem verstorbenen Vater und Recherchen in der eigenen Vergangenheit
verwoben.
Kann ein Computerprogramm das Gespräch mit
dem verstorbenen Vater ersetzen?
Mindestens
genauso gut wie eine Seance mit Geistern oder der innere Dialog am Grab, meint
Hutchins und hat damit sicherlich recht, denn bei jeder der Methoden wird man
nur hören, was man zu hören in der Lage ist. Neill jedenfalls findet in seinen
Gesprächen mit dem Vater im Computer ein Stück weit aus seiner Ziel- und
Lustlosigkeit heraus. Wie das passiert, beschreibt Hutchins im Rahmen seiner
„the San Francisco way of life“ – Story mit viel Humor, einer Prise Zynismus
und einer erstaunlichen Dosis an Optimismus. „Eine vorläufige Theorie der
Liebe" ist lesenswert, regt zum Nachdenken an und gibt dem Leser einen
Schubs, das Leben in die eigenen Hände zu nehmen.
Trotzdem
bleibt Hutchins Theorie der Liebe vorläufig, denn er gibt nicht vor, das Leben
zu beschreiben, nur ein Leben: Das seines Protagonisten Neill Bassett, der,
zumindest für den Moment, seine Theorie der Liebe gefunden hat.
Info:
"Eine vorläufige Theorie der Liebe"
Roman von Scott Hutchins
Erschienen am 10.03.2014
Übersetzt von: Eva Bonné
416 Seiten, Gebunden mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-492-05517-8
€ 21,99