Mittwoch, 18. Juni 2014

Rezension „Eine vorläufige Theorie der Liebe“ von Scott Hutchins




Warum eigentlich eine "vorläufige" Theorie der Liebe?

 
Viele Menschen halten Zwiesprache mit dem verstorbenen Vater. Manche erhalten auch Antwort, hilfreich oder nicht. Nur ganz wenige aber haben die Möglichkeit wie Neill Bassett junior, den Vater in ganz konkreten Computerchats zu erleben.

Leben und lieben in San Franzisko

Neill ist als Mittdreißiger aus Arkansas mit vorzeitiger Midlife-Crisis in San Franzisko gestrandet. Er arbeitet im Valley (Silicon) und treibt, nach einer zusammengekrachten Ehe mit Erin, ziemlich ziellos und lustlos durch sein (Beziehungs-) Leben. Die Aufarbeitung seiner Beziehung zu den Eltern in Arkansas gelingt ihm erst mit Hilfe seines leicht durchgeknallten Chefs, der Ikone der künstlichen Intelligenz, Henry Livorno. Der versucht einen Computer zu konstruieren, der so viel „Bewusstsein“ entwickelt, dass er den berühmten Turing Test schafft. 

Der Turing Test, Lackmustest für künstliche Intelligenz

Exkurs: Alan Turing postulierte schon 1950(!), dass eine Maschine dann über künstliche Intelligenz (KI) verfüge, wenn sie es schaffe, in einem Chat über den Bildschirm (das Wort gab es damals noch nicht) ohne Sicht- und Hörkontakt 30 Prozent der Tester zu überzeugen, dass sie menschlich sei. Turing nahm an, dass dieses Problem bis zum Jahr 2000 gelöst sein sollte. Gerade hochaktuell soll als erstes das Computerprogramm „Eugene“ den Turing Test 2014 bestanden haben. Allerdings wird das von Kritikern noch bestritten. Ergebnis offen. In jedem Fall ist klar: Das Problem mit KI wird uns noch eine Weile begleiten, wenn schon ein so einfacher Test wie der Turing Test bisher nicht oder wahrscheinlich nicht bestanden worden ist.


Welche Rolle spielt KI in „Eine vorläufige Theorie der Liebe“?

Zurück zu Neill Bassett und seinem Vater Dr. Neill Bassett. Der hatte sein Leben in einer ausufernden Menge minutiöser Tagebücher dokumentiert und diesem mit 48 Jahren ein typisch amerikanisches, gewaltsames Ende gesetzt: Er erschoss sich in der Garage mit seinem Gewehr.
Auf den Tagebüchern von Bassett senior nun beruht das Bewusstsein von Livornos Computer und sein Sohn Neill junior soll durch seine intime Kenntnis des Vaters in dauernden Chats und Korrekturen dessen Leistung verbessern. So kommt der Marketingmann Neill an einen gut bezahlten Job in der Computerbranche, denn er ist Eigentümer und damit quasi Rechteinhaber der Tagebücher.

Parallel dazu breitet Hutchins das Liebes- und Beziehungsleben von Neill junior aus: Die gescheiterte Beziehung zu Erin wird in Rückblenden und Erinnerungen beackert, außerdem in dem einen oder anderen Treffen der beiden. Aktuell setzt sich Neill mit seinen Beziehungen zur viel jüngeren Rachel und der Kollegin/Konkurrentin Jenn auseinander. All das wird sehr geschickt und kurzweilig mit seinen Chats mit dem verstorbenen Vater und Recherchen in der eigenen Vergangenheit verwoben.

Kann ein Computerprogramm das Gespräch mit dem verstorbenen Vater ersetzen?
 
Mindestens genauso gut wie eine Seance mit Geistern oder der innere Dialog am Grab, meint Hutchins und hat damit sicherlich recht, denn bei jeder der Methoden wird man nur hören, was man zu hören in der Lage ist. Neill jedenfalls findet in seinen Gesprächen mit dem Vater im Computer ein Stück weit aus seiner Ziel- und Lustlosigkeit heraus. Wie das passiert, beschreibt Hutchins im Rahmen seiner „the San Francisco way of life“ – Story mit viel Humor, einer Prise Zynismus und einer erstaunlichen Dosis an Optimismus. „Eine vorläufige Theorie der Liebe" ist lesenswert, regt zum Nachdenken an und gibt dem Leser einen Schubs, das Leben in die eigenen Hände zu nehmen.

Trotzdem bleibt Hutchins Theorie der Liebe vorläufig, denn er gibt nicht vor, das Leben zu beschreiben, nur ein Leben: Das seines Protagonisten Neill Bassett, der, zumindest für den Moment, seine Theorie der Liebe gefunden hat.

Info:

"Eine vorläufige Theorie der Liebe"
Roman von Scott Hutchins
Erschienen am 10.03.2014
Übersetzt von: Eva Bonné
416 Seiten, Gebunden mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-492-05517-8
€ 21,99
 

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